Das Evangelium nach Maria Magdalena

Rekonstruiert und ins Englische übersetzt von Robert M. Price

Ins Deutsche übertragen von Klaus Mailahn

Es ist schon eine echte Sensation: Der amerikanische Wissenschaftler Robert M. Price hat das bisher nur fragmentarisch erhaltene Evangelium nach Maria aus dem Nag Hammadi-Codex rekonstruiert und ins Englische übersetzt! Diese Pionierleistung geschah im Rahmen seines Buches "The Pre-Nicene New Testament", einer Arbeit, die das ursprüngliche Neue Testament, wie es vor dem Konzil von Nicäa im Jahr 325 Bestand hatte, wiederherstellt. Bekanntlich wurde das NT, wie es uns in der heutigen Form vorliegt, erst auf dem besagten Konzil unter der Regierung von Kaiser Konstantin dem Großen zusammengesetzt, und zwar unter Ausschluss wichtiger Texte des gnostischen Christentums. Einer der wichtigsten Texte davon ist das auf etwa 130 bis 180 datierte so genannte Evangelium nach Maria“.

Die von Price vorgenommene Rekonstruktion geschah vor allem auf der Basis von Quellen der mittelplatonischen Christen, besonders der valentinianischen und sethianischen Gnosis, und damit bestätigt er meine Vermutungen, dass die Magdalenengestalt in diesen Traditionen, besonders in der erstgenannten, eine sehr wichtige Rolle spielte. Bereits die Angaben von Hippolyt von Rom und den späteren Philippus-Akten legen ja einen Bezug von Maria Magdalena zu den Naassenern bzw. Ophiten nahe, und diese Sekten wiederum gelten als Vorläufer der valentinianischen und sethianischen Schulen. In meinem Buch "Die Göttin des Christentums: Maria Magdalena"gehe ich an vielen Stellen besonders auf die Bedeutung von Maria Magdalena bei Valentinus ein, vor allem im 4. Kapitel.

Einige Worte zum Text selbst. Die entscheidende Erkenntnis dieser Schrift, in der Jesus nach seiner Auferstehung den JüngerInnen erscheint und ihnen bis zu diesem Zeitpunkt verheimlichte, nur Maria Magdalena offenbarte Lehren vermittelt, ist zum einen dieser Aspekt selbst, zum anderen, dass hier eindeutig die Reinkarnation gelehrt wurde. Diese Vermutung hatte sich bereits aufgrund des Inhalts des bis dato bekannten Fragments nahegelegt, durch Price' Arbeit jedoch wird sie eingängiger und erscheint klarer. Wir haben nun ein in sich harmonisches und schlüssiges gnostisches Evangelium vor uns, welches dann im dritten Jahrhundert vielleicht als Grundlage für die Pistis Sophia, einer Schrift ähnlichen Sinns, gedient haben mag. Jedenfalls, künftig muss man sich mehr als bisher die Frage stellen, ob die Lehre von der Wiedergeburt auch deshalb von der Kirche verboten wurde, weil Maria Magdalena sie den JüngerInnen weitergegeben hatte! Ein Hinweis dazu dürfte auch sein, dass eine entscheidende Brandmarkung dieser Lehre als Häresie noch im Mittelalter geschah, und zwar im Rahmen der Vernichtung der Katharer, welche einerseits die Reinkarnation lehrten und andererseits Maria Magdalena sehr hoch verehrten. Interessant auch der Aspekt, dass der Schöpfer der Erde nicht die höchste Gottheit, sondern, wie in der Gnosis üblich, der Demiurg oder Jaldabaoth, eine Verballhornung von Jahwe und Zebaoth ist. Auch hierauf gehe ich in meiner eigenen Arbeit ein.

Das von Price in die englische Sprache übertragene und in 14 Abschnitte unterteilte Evangelium nach Maria habe ich komplett ins Deutsche übersetzt, und zwar, um keinen Stilbruch zu begehen, auch die bisher bekannten Passagen, die hier in Kursiv gesetzt sind.

Das Evangelium nach Maria Magdalena

1

Am dritten Tag aber nach seinem Leiden erschien der Erlöser vor seinen JüngerInnen, die alle am Ölberg versammelt waren. Und nachdem er ihre Zweifel beseitigt hatte, begann er sie wie folgt zu lehren: „Meine Brüder und Schwestern! Seit langer Zeit schon ist es mein inniger Wunsch, euch mit den tieferen Wahrheiten, die ihr wissen müsst, bekannt zu machen. Denn eure Herzen sind eins mit der Welt, in der ich starb, und aus der ich nun für immer aufgestiegen bin. Und eure Seelen sind mit mir aufgestiegen, sodass ihr nun in der Lage sind, das zu verstehen, was ihr früher nicht ertragen konntet, als ihr es vernahmt. Ich habe euch dem Griff der Archonten der Welt entrissen, auf dass ihr von den Welten hört wie ein Jünger von seinem Lehrer und wie ein Sterblicher von seinem Gott.“


2

Und Petrus trat hervor aus ihrer Mitte und fragte: „Herr, erzähle uns vom Vater. Wer ist er? Und warum hat er dich gesandt?“ Und der Erlöser erwiderte: „Du bist gesegnet, Simon, denn du mutmaßt nicht über das, von dem du weißt, dass es ein Geheimnis für alles Fleisch sein muss. Denn mein Vater ist nicht der Erschaffer der materiellen Welt, die du um dich herum wahrnimmst - eine Welt, die erfüllt ist von Tod und Verzweiflung, die zudem, obwohl sie das Fieber des Fleisches und seines sterblichen Verlangens kennt, sich voller Freude und Wohlstand wähnt und somit ihre Leben durch die Verfolgung von Illusionen vergeudet. NEIN, all diese Dinge versklaven lediglich die Menschheit unter den Schöpfer der Materie. Mein Vater aber steht hoch über jenem, weshalb er der Höchste Gott genannt wird. Niemand aber spricht von etwas als ,dem Höchsten’, wenn sich nicht noch etwas anderes darunter befindet.


3

Und ihr Sterblichen seid teilweise seine Schöpfungen, nämlich insoweit, dass er den Körper aus Unreinem, aus Schmutz erschuf. Eure Seelen aber hat der Demiurg aus dem Lichtreich gestohlen. Mit ihnen hat er euer wie das Leben erscheinende Fleisch angereichert, welches in Wahrheit aber nur ein Schatten des Lebens ist, welches ihr aus dem Pleroma des Höchsten kennt. Hier seit ihr nun gefangen in Unwissenheit und wisst nichts, weder von eurem Ursprung noch von eurer Bestimmung. Und aus diesem Mangel an Wissen heraus stürzt ihr in Verderbnis und werdet stets aufs Neue in euren Körpern geboren, so lange der Weg vor euch verborgen liegt. Und aus diesem Grund sandte mich der Vater hinab in die Welt in Gestalt eures Fleisches, auf dass ich euch dass Wissen über diese Wahrheiten vermittele.“


4

Andreas fragte: „Oh Erlöser, wie sollen wir die Dinge betrachten, die du der Menge gesagt hast, und die sich nicht so sehr von dem unterscheiden, was sie von den Schriftgelehrten gehört hat?“ Und der Erlöser erwiderte: „Lass diese Dinge so, wie sie sind, Andreas. Einige aus dieser Menge werden noch entdecken, dass sie einen Funken von Licht in sich tragen, und dann werden sie nach dem suchen, wovon ich euch erzählt habe, damit ihr davon Kenntnis erlangt. Andere aber können dies nicht, doch mein Vater liebt auch sie. Daher hat er mir befohlen, ihnen Weisheit zu vermitteln von der Art, wie sie zu erfassen in der Lage sind. Um die Strenge des Schöpfers der Welt zu mildern, gab er dem Gesetzgeber die Gebote. In diesen wirst du nichts Falsches finden, doch für die Erlösung eurer Seelen sind sie bedeutungslos.“


5

Darauf fragte Levi den Erlöser: „Mein Herr, wie verhält es sich mit den Leiden, die du ertrugst, und mit dem Tod, den du starbst? “ Und der Erlöser antwortete: „Ich litt und ich litt nicht, ich starb und ich starb nicht. Die bösen Archonten konnten mir nur das schändliche Erdenkleid nehmen, welches ich angenommen hatte um meines Verweilens in der Welt willen. Lange Zeit befahl ich euch, das Geheimnis meiner Identität zu wahren, doch die Mächte wussten davon, und schließlich hatten sie mich gekreuzigt, nicht ahnend, dass sie die wahre Ursache meiner Erlösungstat waren. Und der Grund, warum ich diese Demütigungen erlitt, war zum Wohle derer, die meinen wahren Geist nicht hatten, und die nun erhoben sind. Ich zog sie weg vom Schöpfer und bringe ihnen nun die innere Kunde meiner Botschaften, welche ihr verkünden werdet. Viele von ihnen werden berufen sein, doch nur wenige auserwählt.“


6

Nun ergriff Salome das Wort und fragte ihn: „Was wird das Ende aller Dinge sein, und werden nur einige Wenige errettet werden?“ Der Erlöser antwortete: „Oh Magd meines Vaters, deine Wissbegierde ist so groß wie die der Sophia, die begehrte, hinter den Schleier des Pleromas zu sehen. Amen, ich sage dir: Die Kunde aus dem Königreich des Lichts wird überall in dieser sublunaren Welt gepredigt und in der Welt darunter, und Diejenigen, die hören wollen, entkommen dem Rad von Tod und Wiedergeburt, wenn sie dereinst sterben. Ihre Seelen werden aufsteigen, und wenn sie weise sind, werden sie von den Herrschern der Himmlischen Sphären eingelassen. Und nur die Auserwählten sind dann erlöst worden; die Materie, die sie gefangenhielt, fällt zurück in den Zustand des jungfräulichen Lehms, und dieser wird kein Abbild von ihnen darstellen. Am Ende aber wird die ganze Schöpfung des Schöpfers zur Leblosigkeit zurückkehren.


7

Simon Petrus fragte dann: „Wird die Materie vernichtet werden oder nicht?“ Der Erlöser erwiderte: „Die ganze Natur und jegliche ihrer Ausformungen, sowie alle Geschöpfe existieren in- und miteinander, und sie werden wieder zu ihren Wurzeln hin aufgelöst. Denn das Wesen der Materie ist in die Elemente ihrer besonderen Natur mit eingebunden. Wer Ohren hat zu hören,der höre.“ Petrus sagte darauf: „Da du uns bislang alles erklären konntest, so erkläre uns auch dies: Was ist die ursprüngliche Sünde der Welt?“ Der Erlöser sprach: „Es gibt eigentlich keine Sünde, aber ihr begeht Sünde, indem ihr an Handlungen teilnehmt, die mit der Beschneidung zu tun haben. Denn diese allein wird passenderweise ’Sünde’ genannt. Aus diesem Grund kam das Gute in eure Mitte: Um jegliche Natur zu reinigen, und um ihren ursprünglichen Zustand wiederherzustellen.“ Dann fuhr er fort mit den Worten: „Deshalb werdet ihr krank und sterbt. Denn der Geist versucht stets vor den Auswirkungen zu fliehen, welche der sterbliche Leib eines noch nicht Erleuchteten mit sich bringt. Denjenigen, der verstehen will, lasst ihn verstehen! Die Materie gebar eine Leidenschaft ohnegleichen, und diese entsprang einer Abscheu gegen die Natur. Die Folge davon war, dass ein Zittern durch den ganzen Körper ging. Daher sprach ich einst zu euch ,Seid guten Mutes!’ Und wenn ihr niedergeschlagen seid, fasst Mut. Ihr seid umgeben von den verschiedenartigsten Formen des Seins. Wer Ohren hat zu hören, der höre!“


8

Als der Gesegnete derart gesprochen hatte, gab er allen den Gruß mit den Worten: „Friede sei mit euch! Empfangt meinen Frieden in euren Herzen! Gebt acht, dass euch niemand in die Irre führe und sagt ,Seht hier!’ oder ‘Seht dort!’ Denn der Menschensohn ist in eurem Innern! Folget seinem Weg! Wer immer nach ihm sucht, der wird ihn finden. So gehet nun und verkündet die Botschaft vom Königreich. Achtet darauf, dass ihr keine Regeln erlasst für Diejenigen, die ich für euch bestimmt habe, und verkündet keinen Gesetzestext, wie es der Gesetzgeber tat. Dies aber, damit ihr darübersteht und euch nicht wie in Knoten darin verfangt.“ Nachdem er diese Worte gesagt hatte, verließ er sie. Sie aber beklagten seinen Verlust, brachen in Tränen aus und fragen untereinander: „Wie sollen wir es anstellen, in ferne Länder zu gehen und die Botschaft vom Königreich des Menschensohns zu verkünden? Sie werden kein Erbarmen mit uns haben und uns nicht verschonen.“


9

Da erhob sich Maria aus ihrer Mitte, erhob ihre Hand und sprach zu ihren Brüdern: „Hört auf zu weinen! Trauert nicht und wankt nicht, denn seine Gnade wird mit uns sein und jeden von euch beschützen. NEIN, lasst uns stattdessen seine Größe preisen und uns daran erinnern, dass er uns lehrte und in Menschen verwandelt hat.“ Indem Maria diese Worte sprach, wandte sie ihre Herzen zum Guten, und sie begannen nun, über die Worte des Erlösers zu diskutieren.


10

Petrus sagte dann zu Maria: „Schwester, wir sind uns bewusst, dass der Erlöser dich mehr liebte als jede andere Frau. Erzähle uns von den Dingen, von denen der Erlöser sagte, dass du dich an sie erinnern sollst - die Dinge, die du weißt, aber nicht wir, davon, wovon wir nie etwas vernommen haben.“ Maria antwortete ihm: „Was euch verborgen geblieben ist, will ich euch nun enthüllen.“ Und sie begann, folgende Worte zu ihnen zu sprechen: „Ich sah den Herrn einst in einer Vision, und darauf sagte ich zu ihm: ,Herr, ich sah dich heute in einer Vision!‘ Er antwortete mir und sprach zu mir: ,Gesegnet bist du, Maria, denn du hast keine Angst, wenn du mich so siehst! Denn wo der Geist ist, dort wird auch die Herrlichkeit sein.‘ Ich fragte ihn darauf: ,Herr, womit sieht der Seher seine Vision - mit der Seele oder mit dem Geist?’ Und er erwiderte: ,Es ist weder mit der Seele, mit der er sieht, noch durch den Geist, sondern durch den Verstand, der zwischen ihnen beiden ist. Dieser ist es, der die Vision erblickt,und genau deshalb spreche ich nun mit dir darüber, Maria.’


11

Da fragte ich ihn: ‚Oh Herr, ich weiß, dass du uns verlassen wirst, um in das Lichtreich aufzusteigen, aus dem du gekommen bist.. Wir wissen jedoch nicht, welchen Weg du dafür nehmen wirst. Gehe nicht so schnell von uns, sondern offenbare uns zuvor den Weg, der zum Vater führt und den jede Seele beschreiten muss, wenn dereinst Unheilsames sich mit der Materie vermengen wird an dem Tag, an dem uns das Fleisch keinen Halt mehr gibt.’ Und der Erlöser sprach zu mir: ‚Oh Maria, ich werde dir zeigen, welchen Weg du gehen musst an dem Tag, an dem deine Brüder dich diese Dinge fragen werden. Dann wirst du es sein, die weiß, was ich zur Erlangung der Erlösung für notwendig hielt, nämlich dass wir einst im Hause des Lichts des Höchsten, woher alle auserwählten Seelen stammen, wieder vereinigt werden. Wisse zuerst dies: Der Weg ist einfach, aber nicht unverschlossen. Er windet sich durch sieben Himmelssphären, und jede von diesen wird sorgfältig bewacht von einem Wächter und Steuereintreiber, der stets bedacht darauf ist, seine Schulden einzutreiben. Als ich einst aus dem Licht des Pleromas herabstieg, verkleidete ich mich, indem ich zum Schein die jeweilige Art und Natur der Archonten des jeweiligen Reiches annahm und ihnen somit ähnlich sah. So konnte ich unbehelligt alle Reiche durchqueren. Mit jeder Welt, die ich passierte, wechselte ich das Gewand wie ein Schauspieler, der sich für die nächste Szene umzieht. Gegenwärtig werde ich bald wieder diese Welt verlassen und muss daher jede einzelne Schicht ablegen, selbst die sieben Körper, die jeweils aus unterschiedlicher Substanz bestehen. Jedes einzelne welk gewordene Kleid muss ich ausziehen und es den Archonten übergeben, welche in den einzelnen Sphären herrschen. Du und deine Brüder werden nicht so leicht in der Lage sein, den Geschicken der Archonten zu entrinnen. Doch wenn sie aufmerksam genug sind, ist es nicht so schwer, sie zu überlisten – vorausgesetzt, man weiß, mit welchen Worten man sie bezwingen kann.’


12

Überdies zeigte er mir in meiner Vision die Seele eines Erlösten, der seinen Ursprung und seine Bestimmung kannte. Die Seele stieg auf wie ein Funke aus einem Lagerfeuer in der kalten Nacht. Nachdem sie sich von dem sie bedeckenden Körper aus Fleisch gelöst hatte, fuhr sie fort aufzusteigen, so lange, bis die Seele zur ersten der Gewalten kam, deren Name Finsternis ist, und die zu ihr sprach: ‚Keinen Schritt weiter, Sünder!’ Und die Seele antwortete: ‚Warum? In welcher Weise habe ich gegen dich gesündigt?’ Und die Finsternis erwiderte: ‚In der Weise, dass dies ein Reich der Finsternis ist und es niemand gestattet ist, hier eine Fackel des Lichts des Wissens hereinzutragen! Deshalb lasse uns schnell dieses peinigende Licht auslöschen, auf dass Alle in den friedvollen Schlaf der Unwissenheit zurückkehren können!’ Und die Seele entgegnete: ‚Nein, oh Finsternis! Denn Diejenigen, die euren Schlaf schlafen, tun dies nur, weil sie deine List nicht kennen! Doch genau davor hat der Erlöser mich gewarnt.’ Und so umging sie die Macht der Finsternis, frohlockend darüber, freigeworden zu sein von der anderen Natur, der weltlichen Ignoranz.


13

Nachdem einige Zeit vergangen war, gelangte die Seele in die Sphäre des Archonten namens Begierde. Dieser verursacht die Vermischung der Naturen und versucht, in der vergänglichen Seele Vorlieben für falsche Vergnügungen und Wünsche, die der Erde angehören, zu erwecken, sodass man wieder zu dieser zurückkehren will. Und die Begierde selbst war da in einem Augenblick und sprach zu der Seele: ‚Wer bist du? Und woher kommst du?’ Und die Seele antwortete: ‚Ich bin der Same des lebendigen Vaters und gehöre nicht zu dieser Welt. Halte mich nicht auf, denn ich versuche, an den Ort zurückzukehren, von dem ich zuerst herkam.’ So sprach sie zu dem Archonten. Und die Begierde sagte darauf zur Seele: ‚Ich erblickte dich nie herabsteigen, nun aber sehe ich dich heraufsteigen! Warum lügst du? Du bist mein!’ Die Seele entgegnete: ‚Wohl gewahrte ich dich, du aber sahst mich nicht wirklich. Du sahst nur mein Gewand und erkanntest mich nicht.’ Nachdem sie diese Worte ausgesprochen hatte, floh sie davon in großer Freude.

Danach traf sie auf die dritte Gewalt, deren Name war Unwissenheit. Diese verhörte die Seele und fragte: ‚Welchen Weg willst du nun einschlagen? Hast du es verdient, in den Himmel einzutreten? In den Ketten der Sündhaftigkeit bist du gefangen. Du, eine Gefangene, wage es nicht, mich nicht richten!’ Doch die Seele entgegnete: ‚Und wer bist du, dass du mich derart richten willst? Ich habe dich auch nicht verurteilt. Ja, es ist wahr, in den Ketten des Fleisches war ich gefangen, doch nun bin ich frei. Man hat mich nicht erkannt. Ich aber bin gekommen, um zu erkennen, dass dem ganzen All die Freiheit zurückgegeben wurde, sowohl in seinen irdischen als auch in seinen himmlischen Bestandteilen.’

Als die Seele so über die dritte Gewalt triumphiert hatte, stieg sie weiter auf, bis sie die vierte Gewalt erblickte; diese aber war siebengestaltig. Die erste der Gestalten aber ist die Finsternis, die zweite die Begierde, die dritte die Unwissenheit, die vierte der Schrecken des Todes, die fünfte das Reich des Fleisches, die sechste die verblendete ‚Weisheit’ des Fleisches, die siebte die Vergeltung des Fleisches. Dies sind die sieben Gewalten des Zorns. Sie fragten die Seele: ‚Woher kommst du, Mörderin? Wohin willst du, du Raumreisende?’ Die Seele ihrerseits erwiderte: ‚Was mich gefangenhielt, wurde getötet, was mich umgab, wurde besiegt, das Feuer meiner Begierde wurde gelöscht, und meine Unwissenheit hat sich in Wissen gewandelt. Inmitten der Welt wurde ich befreit von den weltlichen Dingen, und auch befreit vom Schrecken des Todes. Eine himmlische Macht war es, die mich befreite von den Ketten des vergänglichen Nicht-Erkennens. Fürderhin wird mein Weg der des Schweigens sein, und dieser Weg kennt keine Zeit, Jahreszeit oder Alter.’“


14

Nach diesen Worten schwieg Maria. Sie hatte das Ende dessen, was der Erlöser ihr vermittelt hatte, erreicht. Andreas aber ergriff das Wort und sprach zu seinen Brüdern: „Versteht ihre Worte, wie ihr wollt. Ich für meinen Teil glaube nicht, dass der Erlöser so gesprochen hat. Wahrlich, diese Lehren sind voll von bizarren Vorstellungen.“ Petrus antwortete ihm in der gleichen Weise. Er bestritt die Lehren des Erlösers: „Sollte er wirklich mit einer Frau über solche Dinge gesprochen haben, ohne dass wir davon wussten? Im Geheimen? Sollen wir etwa nun unsere Meinung ändern und künftig auf sie hören? Hat er sie uns vorgezogen?“ Da brach Maria in Tränen aus und sprach zu Petrus: „Mein Bruder Petrus, was denkst du denn? Glaubst du etwa, ich hätte das alles nur erfunden in meiner Fantasie? Bezichtigst du mich der Lüge über den Erlöser?“ Levi antwortete darauf und sprach: „Petrus, du warst von jeher aufbrausend. Und nun muss ich sehen, wie du gegen die Frauen kämpfst, als ob sie unsere Feinde wären. Wenn der Erlöser aber sie als seiner würdig erachtet hat, wer bist dann du, dass du sie verwerfen willst?“ Sicherlich kennt der Erlöser sie sehr gut. Deshalb liebte er sie auch mehr als uns. Stattdessen sollten wir uns schämen und den vollkommenen Menschen anziehen. Wir sollten so werden, wie er uns angewiesen hat, die gute Nachricht verkünden und keine eigenen Lehren hinzufügen.“ Nachdem Levi so gesprochen hatte, fassten sie neuen Mut und gingen auseinander, um das wahre Evangelium zu predigen.